Mit einem Klick zum Amt. Fast alle Behördengänge sind in Estland online möglich. Foto: unsplash.com/Joseph Frank

Kleiner Staat, ganz digital

In Estland leben nur 1,3 Millionen Menschen, das aber hoch digitalisiert. Durch einen klaren Plan ist der Staat und insbesondere seine Verwaltung digitaler unterwegs als viele andere in Europa.

Foto: Mit einem Klick zum Amt. Fast alle Behördengänge sind in Estland online möglich. Credits: Unsplash/Joseph Frank

Am 1. Juli 2020 veröffentlichte das World Economic Forum einen Fachartikel über die geringen Auswirkungen des Lockdowns in Estland auf das gesellschaftliche Leben. Als Grund dafür geben die Autoren der Studie an: Die Gesellschaft in Estland ist so digitalisiert wie kaum eine andere in Europa. Auch zahlreiche andere Veröffentlichungen wie beispielsweise ein wissenschaftliches Paper des University College London nennen Estland als Vorbild für einen digitalisierten Staat. Zurecht, wie Daten des „DESI“ – des Digital Economy and Society Index – zeigen.

DESI – wie die EU Digitalisierung misst

Der Digital Economy and Society Index, kurz DESI, wurde von der Europäischen Kommission erstellt und wird regelmäßig aktualisiert, um den aktuellen Stand und Fortschritt der Digitalisierung in den Einzelstaaten der EU zu messen. In den Index fließen Parameter aus fünf Kategorien ein: „Connectivity“, „Human Capital“, „Use of Internet Services“, „Integration of Digital Technology“ sowie „Digital Public Services“ – also Digitalisierungsmerkmale aus allen Lebensbereichen. Von der Anbindung und Nutzung des Internets im Allgemeinen bis hin zur Verfügbarkeit digitaler Behördendienste und der Digitalisierung der Wirtschaft. 

Volkswirtschaften sind keine Digital-Vorreiter

Das kleine Estland mit seinen rund 1,3 Millionen Einwohnern landet in diesem Ranking nicht ganz an der Spitze, aber schon recht weit vorne. Das digitalste Land der EU ist 2020 Finnland, gefolgt von Schweden und Dänemark – sie alle landen im DESI bei rund 70 Punkten. Es folgen die Niederlande, Malta und Irland mit rund 60 Index-Punkten. Genau wie Estland – als erstes Land der ehemaligen „Ostblock“-Staaten. 

Beachtlich ist aber vor allem, dass Estland mit den anderen sechs Ländern deutlich vor sämtlichen großen Volkswirtschaften der EU liegt. Der DESI-Bericht kommentiert: „Die gemessen am BIP größten Volkswirtschaften der EU gehören nicht zu den digitalen Vorreitern“. Deutschland beispielsweise landet nur auf Platz 12, Frankreich auf Platz 15. 

Estland – wo Amtsbesuche online stattfinden

In einem Bereich ist Estland aber einsamer Digital-Spitzenreiter: beim e-Government. Damit ist  beispielsweise gemeint, dass man sich digital ausweisen, offizielle Dokumente online einreichen und online auch mit Ämtern korrespondieren kann. In Estland sind fast alle Regierungsservices online verfügbar – seien es Wahlen, Steuern, oder medizinische Belange. Gestützt durch ein großes Vertrauen in die Sicherheit von digitalen Services und in die Regierung werden solche Angebote von der Bevölkerung angenommen, wie in keinem anderen Land Europas. 

Nach Angaben der staatlichen Plattform „e-Estonia“ reichen 98 Prozent der Bürgerinnen und Bürger ihre Steuern inzwischen online und innerhalb von drei Minuten ein. Durch das breite digitale Angebot blieb der estnische Verwaltungsapparat auch währen der Corona-Pandemie erreichbar: Neun von zehn Menschen mit Internetzugang in Estland nutzten im Jahr 2020 mindestens einmal solche e-Government-Angebote. EU-weit waren es im Durchschnitt nur fünf von zehn Menschen.

Digitalisierung nach Plan

Hinter der erfolgreichen Digitalisierung des Landes steckt ein lange gehegter Plan: 1994 veröffentlichte die estnische Regierung die „Prinzipien der estnischen Informationsstrategie“ und zwei Jahre später die  „Tigersprung-Initiative“. Mit dem erklärten Ziel: Den technischen Rückstand auf westliche Länder, der während der Soviet-Zeit entstanden war, aufzuholen und gesellschaftliche und politische Probleme mit modernen Mitteln zu lösen. Im gleichen Jahr ging der erste  elektronische Bankservice an den Start. Im Jahr 2000 konnten Menschen in Estland erstmals ihre  Steuern online erklären. Bereits seit 2005 sind Wahlen auch online möglich, seit 2008 wird Estlands Gesundheitssystem digital verwaltet. 

Die Erfolge ihres Digitalisierungsprojekts hebt die estnische Regierung auf der eigenen Websites e-estonia.com hervor. Dort steht auch, woran nun gearbeitet wird und werden soll: Künstliche Intelligenz soll für private und Regierungsbelange nutzbar gemacht und autonome wasserstoffbetriebene Fahrzeuge erforscht und entwickelt werden.

Estland kannte digitale Lehre schon vor Corona 

Wenig überrascht da noch, dass Lehrerinnen und Lehrer in Estland schon lange vor der Corona-Pandemie Fortbildungen zu digitaler Lehre und Sicherheit erhielten. Bereits seit 2015 wird die vollständige Digitalisierung von Lerninhalten angestrebt. Schulkinder ohne eigene Endgeräte wurden in Zeiten von Homeschooling unbürokratisch mit Computern und Tablets ausgestattet – und zwar nicht nur von der Regierung, sondern auch von Privatpersonen und IT-Unternehmen, die ihre eigenen Geräte zur Verfügung stellten.

Estland – die baltische Startup-Zentrale

Das „digitale Mindset Estlands“ wurde 2017 von der Startup Plattform Berlin Valley als „ein hervorragender Nährboden für eine stetig wachsende Startup-Szene“ bezeichnet. Als „Urknall“ der estnischen Gründerszene gilt demnach der Erfolg von Skype, das 2005 ursprünglich von estnischen Gründern entwickelt wurde. Nach dem „Global Startup Ecosystem Report 2021“ belegt Estland aktuell Platz 6 der Emerging Startup Ecosystems. Also eine Umgebung, in der junge schnell wachsende Unternehmen gute Rahmenbedingungen vorfinden. Dazu tragen sicher auch die unbürokratischen digitalen Verwaltungsangebote bei. Herausgegeben wird der Bericht von Startup Genome, der nach eigenen Angaben führenden Forschungs- und Beratungsorganisation im Startup-Bereich. 

Wo noch mehr geht

Estnische Unternehmen nutzen das Internet vergleichsweise intensiv: 2020 hatten gut drei Viertel der kleinen und mittelständischen Unternehmen eigene Websites mit Webshop, Kundenservices und anderen Interaktionsmöglichkeiten. Im EU-Durchschnitt traf das in dem Zeitraum nur auf gut jedes zweite kleine und mittelständische Unternehmen zu. Dennoch nennt der DESI-Bericht die Digitalisierung von Unternehmen sowie die Anbindung ans Internet allgemein „relative weaknesses“. Konkret heißt das: In diesen Bereichen landet Estland eher im EU-Mittelfeld. So nutzt beispielsweise 88 Prozent der estnischen Bevölkerung mindestens einmal pro Woche das Internet – etwa so viel wie der EU-Durchschnitt. 

Gemeinsam mit Dänemark und Luxemburg gehört Estland zu den Ländern, die in den vergangenen Jahren nur geringe Fortschritte in der Digitalisierung gemacht haben – das liegt aber vor allem daran, dass sie in vielen Lebensbereichen schon richtig viel digitalen Dampf gemacht haben.

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