Lange bevor die Dinos ausstarben, verschwand fast alles Leben von unserem blauen Planeten. Warum war lange unklar. Eine Forscherin aus Kiel hat sich auf Spurensuche begeben und ein 250 Millionen Jahre altes Rätsel gelöst.
Foto: Vulkanlandschaft. Credits: Unsplash/Jeff King.
Kanarische Inseln, Spanien
Knapp 19 Grad ist das Wasser warm, als Hana Jurikova zu ihrem Tauchgang aufbricht. Sie will versuchen, was niemand vor ihr geschafft hat: lebendige Brachiopoden finden und kultivieren. Die muschelähnlichen Organismen sollen ihr helfen, das größte Massensterben der Erdgeschichte vor 250 Millionen Jahren zu entziffern. Während nach einem Meteoriteneinschlag vor knapp 70 Millionen Jahren die Dinosaurier und insgesamt drei Viertel aller irdischen Arten ausstarben, verschwanden an der Grenze vom Erdzeitalter Perm zu Trias noch mehr Lebewesen, im Meer sogar 95 Prozent allen Lebens. Damit führt das Perm-Trias-Ereignis die Liste der fünf großen Massenaussterben an.
Der Meeresboden vor den Kanaren gleicht einer Mondlandschaft. Krater und vulkanisches Gestein prägen das Bild. Die Brachiopoden, die Hana Jurikova sucht, sind oft nur einen Zentimeter groß. Nach anstrengenden Tagen ohne viel Schlaf und zwei Tauchgängen täglich gelingt es ihr aber, die Armfüßler, wie die Tiere auf Deutsch heißen, zu finden. Die kleinen Tiere sind allerdings so fest mit dem Gestein verbunden, dass die slowakische Forscherin und ihre Kolleg*innen gleich die ganzen Brocken bergen müssen. Hunderte Brachiopoden sammeln sie so für ihre Forschung.
Südliche Alpen, Italien
Während Hana Jurikova taucht und lebende Brachiopoden sucht, graben Renato Posenato und seine Kolleg*innen fast 4000 Kilometer weiter nördlich in den italienischen Alpen nach bereits ausgestorbenen „Art“-Genossen. Die Fossilien gelten als wichtiges, aber bislang recht unbeachtetes Umweltarchiv. In ihnen sind Informationen zum Säuregehalt der Meere gespeichert. Daraus lassen sich ganze Stoffkreisläufe rekonstruieren.
Die Fossilien zu finden, ist allerdings sehr schwierig. Nur wenige Exemplare existieren und noch weniger sind für Analysen im Labor, wie Hana Jurikova sie plant, geeignet. Auf der Welt gibt es nicht viele Orte, an denen man die wertvollen Fossilien finden kann. In China zum Beispiel sind die Böden so dicht, dass es schwierig ist, die vorhandenen Brachiopoden bestimmten Gesteinsschichten und somit konkreten Zeiten der Erdgeschichte zuzuordnen. Das macht die Alpen so besonders. Hier entnehmen Posenato und seine Kolleg*innen meterdicke Bohrkerne. Je tiefer die Probe in diesem Kern zu finden ist, desto älter ist sie. In den Alpen sind die Gesteinsschichten parallel zur Oberfläche besonders breit. Das erleichtert es, die gefundenen Brachiopoden bestimmten Zeitpunkten zuzuordnen. Das Aussterben hat nur zwischen zehn- und hunderttausend Jahren gedauert. Ein erdgeschichtlicher Wimpernschlag, dessen Auflösung der Suche nach der Nadel im Heuhaufen gleichkommt.
GEOMAR Institut, Kiel, Deutschland
In Kiel läuft schließlich alles zusammen. Millionen Jahre alte, fossilierte Brachiopoden aus den Alpen und moderne Tiere aus dem heutigen Atlantik treffen aufeinander. Am GEOMAR, dem Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung, schreibt Hana Jurikova ihre Doktorarbeit. Sie will die fossilen Brachiopoden untersuchen und damit den damaligen Säuregehalt der Weltmeere rekonstruieren, und zwar mit einer neuen Methode, der sogenannten Bor-Isotopenanalyse.
Das chemische Element Bor kommt in den Schalen von Wasserlebewesen vor. Es gibt zwei Varianten, eine leichtere, deren Zellkern fünf Neutronen enthält, und eine schwerere mit sechs Neutronen. Solche Varianten des gleichen Elements nennen Fachleute Isotopen. Das Verhältnis beider Bor-Isotope in den Schalen der Brachiopoden schwankt, je nach dem wie sauer das sie umgebene Wasser ist. Steigt der Säuregehalt, enthalten die Schalen mehr vom leichten Bor-Isotop mit fünf Neutronen, und das auch nach 250 Millionen Jahren. Vergleicht man die Verhältnisse beider Isotope mit heutigen Proben, können Forschende daraus ableiten, wie sauer die Weltmeere damals waren.
Das soll der Schlüssel sein, um die geochemischen Vorgänge während des Massenaussterbens zu verstehen und dessen Gründen auf die Spur zu gehen. Schon während ihres Biologiestudiums in England hat sich Hana Jurikova besonders für Isotopenanalysen interessiert. Das erste Mal davon gehört hatte sie während einer Vorlesung, in der es darum ging, wie Isotope helfen, die Wanderung von Vögeln nachzuvollziehen. Die Faszination für Geochemie war geweckt, führte die junge Wissenschaftlerin nach Spanien und Taiwan, brachte ihr einen Master in Ozeanographie ein und ließ sie letztendlich nach Kiel gehen.
Für Hana Jurikova beginnt nun ihre eigentliche Arbeit. Anderthalb Jahre ist sie damit beschäftigt, die Bor-Isotopenanalyse in ihrem Labor zu etablieren. Zu dieser Zeit, Ende der 2010er Jahre, kann man die Zahl der Labore, die dieses Verfahren nutzen, an zwei Händen abzählen. Außerdem müssen die im Atlantik gefangenen Brachiopoden gehegt und gepflegt werden. Obwohl es geheißen hatte, die Kultivierung von Brachiopoden sei unmöglich, schafft Hana Jurikova es, mit Hilfe vieler anderer Forschenden und Studierenden, die Tiere im Aquarium in Kiel zu halten. Einige der Tiere bekommen sogar Nachwuchs.
Und so werden die modernen, lebenden Brachiopoden regelmäßig mit Algen gefüttert. Ihre Kalkschalen werden mit fluoreszierenden Farbstoffen eingefärbt, sodass neu gebildete Schalen unter dem Mikroskop erkannt werden können. Die muschel-ähnlichen Organismen werden in Wasser mit definiertem Säuregehalt kultiviert. So kann Hana Jurikova die modernen Brachiopoden später mit den Fossilien vergleichen.
Sie fertigt von den Schalen der gezüchteten Tiere feinste Schnitte an, um sie unter dem Rasterelektronenmikroskop zu untersuchen. So kennt sie das genaue Aussehen und kann so später die fossilierten Brachiopoden von Gesteins-Artefakten unterscheiden. Dann untersucht sie eine nur wenige Milligramm schwere Probe der Schale. Mittels Elementaranalysen kann die Doktorandin die genaue Zusammensetzung ermitteln. Im letzten Schritt sollen dann endlich die Bor-Isotope in der Schale untersucht werden. Sie machen nicht einmal ein Prozent der gesamten Probe aus und sind das, worauf es die Wissenschaftlerin abgesehen hat. Um zu diesem Punkt zu kommen, braucht Hana Jurikova für jede Probe mindestens eine Woche. Manchmal auch zehn Tage. Hunderte solcher Messungen führt sie während ihrer dreijährigen Doktorarbeit durch.
Mit den Fossilien hat Hana Jurikova dasselbe vor. Erst dann kann sie heutige und damalige Brachiopoden vergleichen und den Säuregehalt des Meeres der Perm-Trias-Grenze rekonstruieren. Die Fossilien aber sind rar und kostbar. Hana Jurikova weiß nicht, ob auch in ihnen ihre Methode funktionieren wird. Der Druck ist groß. Die seltenen, wertvollen Fossilienproben ihrer Kolleg*innen könnten mit ihren geochemischen Analysen aufgebraucht und zerstört werden, ohne etwas neues herauszufinden. Es gibt keine Garantie und es bleiben nur wenige Versuche. Tatsächlich aber gelingt es ihr, auch die Fossilien auf ihre Bor-Isotope zu untersuchen.
Am Ende kann Hana Jurikova mit den Ergebnissen ziemlich viel über die Zeit vor 250 Millionen Jahren aussagen. Dadurch, dass wasserbewohnende, calciumhaltige Lebewesen damals fast vollständig ausgestorben sind, haben Forschende schon lange vermutet, dass der Säuregehalt eine große Rolle gespielt haben muss. Auch, dass Vulkanaktivitäten im heutigen Sibirien Anteil am Massenaussterben gehabt haben sollen, wurde bereits diskutiert. Beweisen und die genauen Zusammenhänge herstellen, konnte aber niemand. Mit Hana Jurikovas neuem Ansatz Brachiopoden und die Bor-Isotopenanalyse für die Rekonstruktion zu nutzen, kann sie die Geschehnisse an der Perm-Trias-Grenze nachzeichnen. Sie kann sogar sagen, wie viel Kohlenstoffdioxid, der wichtigste Faktor für die Versauerung der Meere, damals in der Erdatmosphäre gewesen sein muss. Ein riesiger Erfolg für die 30-jährige Forscherin, der ihr einen Aufsatz im renommierten Fachjournal Nature Geoscience einbringt und Hinweise gibt, welche Katastrophe damals über die Erde hereingebrochen sein muss.
Pangäa, heutiges Sibirien: vor 250 Millionen Jahren
Riesige Farne und baumartige Pflanzen bedecken den Kontinent. Wenn sie absterben, werden sie im Laufe mehrerer Millionen Jahre zu Steinkohle. Beim Übergang von Perm zu Trias gerät die Erde in Bewegung. Auf der Landfläche, die heute Sibirien ist, brechen unzählige Vulkane aus, ganze Landstriche explodieren. Die Vulkane stoßen große Mengen an Kohlenstoffdioxid aus. Noch gefährlicher ist aber, was durch den Austritt des Magmas in Gang gesetzt wird. Die heiße Masse dringt in tiefe Erdschichten ein und entzündet die unterirdischen Steinkohlereserven der letzten Millionen Jahre. Der brennende Planet setzt innerhalb von zehn- bis hunderttausend Jahren eine kaum vorstellbare Menge Kohlenstoffdioxid frei. Sie entspricht ungefähr der 40-fachen Masse dessen, was wir heute und unsere Vorfahren seit der Industriellen Revolution insgesamt an Kohle, Gas und Erdöl zur Verfügung hatten und haben.
Das freiwerdende Kohlenstoffdioxid setzt einen Teufelskreis in Gang. Die Temperaturen steigen wegen der Zunahme des Treibhausgases in der Atmosphäre um etwa zehn Grad Celsius. Durch die Erderwärmung verdampft mehr Wasser und fällt mehr Regen. Aus Felsen und Gesteinen werden Calcium und Magnesium ins Meer ausgewaschen. Der Ozean bindet mehr Kohlenstoffdioxid, es bildet sich Kohlensäure und die Meere versauern. Korallenriffe und Schalentiere der Küstenregionen sterben als erstes. Durch den verstärkten Wasserkreislauf wird auch mehr pflanzliches und tierisches Material ins Meer gespült. Das bedeutet mehr Nahrung für Algen und andere Lebewesen, die sich reichlich vermehren. Schnell genügt der Sauerstoff im Meer für sie nicht mehr und sie verenden. Sterben die Organismen, sinkt der Sauerstoffgehalt durch Verwitterung und Verwesung noch weiter ab. Bald ist er so niedrig, dass kein Leben im Ozean mehr möglich ist. Nicht in Küstennähe und auch nicht in der Tiefsee. Der pH-Wert, das Maß für den Säuregehalt des Ozeans, ist nach Hana Jurikovas Berechnungen, in dieser Zeit um 0,5 Einheiten gesunken. Nach Millionen Jahren Stabilität war das eine riesige Veränderung.
Die Welt: heute und morgen
Einige Wissenschaftler*innen nehmen an, dass wir uns heute im sechsten großen Massensterben der Erdgeschichte befinden. Der Kohlenstoffdioxid-Gehalt in unserer Atmosphäre nimmt zu und die Temperaturen steigen. Der pH-Wert des Meerwassers ist in den vergangenen 200 Jahren um 0,1 Einheiten gesunken. Bis zum Jahr 2100 rechnen Forschende damit, dass dieser Wert um weitere 0,3 bis 0,4 Einheiten sinken wird. Jeden Tag verschwinden 150 Arten für immer von unserem Planeten.
Mit Hilfe von Hana Jurikovas Forschung können wir einen Blick in die Vergangenheit werfen, um die Gegenwart und Zukunft zu verstehen. Auf die Frage, ob sie bei all ihrem Wissen positiv in die Zukunft blicken kann, antwortet die junge Forscherin nur: „Ich bin Optimistin. Und wenn wir eine Sache aus der Geologie wissen, und vielleicht ist das zu positiv gedacht und nicht besonders hilfreich, aber dann ist es das: Das Leben wird immer Überleben…“ Welches Leben damit gemeint ist, bleibt offen.