Kleine Pille – großer Impact. Die Pharmaindustrie ist (noch) alles andere als nachhaltig. Forscher*innen aus ganz Europa arbeiten jetzt an einer Lösung, die die Herstellung von Medikamenten nachhaltiger gestaltet.
Foto: Medikamente im Blister. Credits: Pixabay/jarmoluk
Im Angebot: 20 Tabletten Aspirin, 500 Milligramm, rezeptfrei für knapp 6 Euro. Eine kleine türkisfarbene Kartonschachtel, die wahrscheinlich in vielen Hausapotheken zum Repertoire gehört. Der Klassiker unter den Schmerzmedikamenten. Eine kleine Pille, die dennoch einen großen Impact hat. Insbesondere auf unsere Umwelt. Diesen Impact untersucht das Projekt IMPACTIVE, an dem Forscher*innen aus Frankreich und zehn weiteren europäischen Ländern arbeiten.
Bei Medikamenten gibt es stets den Hinweis auf mögliche Nebenwirkungen. Aber was ist mit denen für die Umwelt? Gilt hier dann eigentlich auch: “Bei Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage”?
Ein realistischer(er) Beipackzettel
Zu den häufigen Nebenwirkungen zählen: Übelkeit, Schwindel und 52 Megatonnen Treibhausgasemissionen pro Jahr – ein Ausmaß, das wir kaum begreifen können. Zum Vergleich: Die gesamte Automobilindustrie stößt weltweit 46 Megatonnen Treibhausgase aus. Da fließen zum einen direkte Emissionen ein, zum Beispiel die Verbrennung fossiler Energieträger im Unternehmen selbst. Indirekte Emissionen, wie eingekaufter Strom, sind ebenfalls mit einberechnet. Materialkosten, Ausstöße in der Lieferkette, Entsorgung von Abfällen, Geschäftsreisen, und und und – kommen noch dazu.
Es gibt also viel Spielraum, um die Produktion von Arzneimitteln nachhaltiger zu gestalten. Und da setzt das Projekt IMPACTIVE an. Nachhaltigkeit hat viele Facetten und gemeinsam haben sich 17 Institutionen aus ganz Europa eine Stellschraube herausgepickt: Sie wollen traditionelle chemische Verfahren mit Methoden der Mechanochemie verbessern. Dabei werden chemische Reaktionen durch mechanische Kräfte wie zum Beispiel Reiben oder Pressen angekurbelt. Der Vorteil: Es werden keine oder weniger Lösungsmittel gebraucht. Eine Studie der Forscher*innen von IMPACTIVE im Fachjournal ACS Sustainable Chemistry & Engineering aus dem Jahr 2022 zeigt bereits, dass damit die Emissionen und Produktionskosten im Vergleich zu traditionellen Verfahren mit Lösungsmitteln verringert werden können. Der Einsatz von Lösungsmitteln kann umweltschädlich sein, da diese oft giftig und schwer abbaubar sind. Ihre Herstellung und Entsorgung verbrauchen mehr Ressourcen als die mechanochemischen Verfahren.
Zur Dosierung und mögliche Kontraindikationen
Wann, wie oft, wie viel – das würden Verbraucher*innen klassischerweise auf der Packungsbeilage finden. Die richtige Dosierung ist wichtig, sonst können Arzneimittel auch schnell toxisch werden. Beispielsweise wenn sie nicht schnell genug vom Körper abgebaut werden können. Damit das Aspirin aber auch gegen Kopfschmerzen helfen kann, muss es biologisch aktiv sein. Das heißt, es kann Veränderungen im Körper – in diesem Fall Schmerzlinderung – hervorrufen. Diese Wirkung beruht auf einem bestimmten Bestandteil der Arzneimittel, den aktiven pharmazeutischen Inhaltsstoffen, kurz: APIs.
Juan José Sáenz de la Torre ist Wissenschaftskommunikator und ist ebenfalls Teil des EU-geförderten Projekt IMPACTIVE. Er sieht hier ein großes Problem: Bei der Herstellung eines Kilogramms dieser aktiven Inhaltsstoffe entstehen zugleich 180 Kilogramm Müll. Außerdem sind diese Wirkstoffe schlecht abbaubar. Die Folge: Durch Ausscheidung und falsche Entsorgung landen diese Substanzen in unserer Umwelt, wo sie unter anderem Wasser verunreinigen und für andere Lebewesen gefährlich werden können, falls sie nicht abgebaut werden können.
Auf die richtige Anwendung kommt es an
Die Europäische Union schlägt seit 2023 eine neue Richtung in der Arzneimittelstrategie ein. Vier Säulen sollen in Zukunft unter anderem den Zugang zu Medikamenten, die Krisenvorsorge, die Wettbewerbsfähigkeit und eben auch die Nachhaltigkeit des Sektors gewährleisten. Der Pharmaindustrie werden dadurch viele weitere Vorgaben und Reglementierungen auferlegt. Das ist nötig, damit die Sicherheit und Wirksamkeit der Arzneimittel garantiert werden können. Aber die Münze hat eben auch eine andere Seite: Unternehmen müssen mehr Geld und Zeit in die Entwicklung und Herstellung von Medikamenten stecken – welche gleichzeitig erschwinglich bleiben sollen. Dann ist es sicherer, Folgeprodukte zu entwickeln, da die Unternehmen so weniger Risiko eingehen müssen: Aspirin Complex, Aspirin Effect, Aspirin Migräne, und viele weitere Aspirin plus irgendwas. Ein Ziel der EU ist es, den Pharmastandort Europa zu stärken. Hier sieht auch Sebastian Härtner, leitender Projektmanager beim Wissenschafts- und Technologieunternehmen Merck, eine große Chance: “Wenn wir dies sowieso nach Europa holen wollen, dann bitte mit einem Prozess, der nachhaltig ist. Mechanochemie ist sehr interessant, weil es einfach einen riesigen Impact auf den Kohlenstoffdioxid-Fußabdruck hat.” Die Idee, mechanische Kräfte zu nutzen, um chemische Reaktionen anzutreiben, sei erstmal nichts Neues. Aber wie breit ist sie einsetzbar? Die Technik ist kein Allheilmittel für die Industrie. Denn: “Nicht jedes Produkt kann mit Mechanochemie bearbeitet werden”, so Härtner. Der Herstellungsprozess bestehe noch aus vielen weiteren Teilschritten, die es zu beachten gilt.
Bei Risiken und Nebenwirkungen… was eigentlich?
Etwas kann der Ansatz von IMPACTIVE (noch) nicht leisten: „Das Ziel des Projekts besteht zunächst nicht darin, eine Produktion auf Industrieniveau zu erreichen, sondern von einem kleineren Maßstab aus zu wachsen“, erklärt Sáenz de la Torre. Ob der Umstieg für Unternehmen mit Mehrkosten verbunden sei? „Die vorhandenen Anlagen müssen nachgerüstet werden. Das bedeutet, dass die Industrieanlagen renoviert und umgestaltet werden müssen, Mitarbeiter müssen geschult werden. Das ist ein großes Risiko“, räumt er ein. Hierbei spielt er vor allem auf die aufgewendeten Ressourcen an, in die die Unternehmen zunächst investieren müssen. Dennoch ist genau diese Zusammenarbeit zwischen Forschung und Industrie, wie sie bei IMPACTIVE mit Kooperationspartner*innen wie Merck geleistet wird, so zentral für die Art und Weise wie in Zukunft Arzneimittel produziert werden. “Das ist die Wissenschaftsarbeit, die wir brauchen, weil wir anhand der Parameter lernen und dann sagen können, wie wir die Technik am besten einsetzen”, so Härtner.
Und jetzt?
Die türkisfarbenen Aspirinpackungen aus unserem Badezimmerschrank werden so schnell nicht nachhaltig. Dazu kommt, dass Konsument*innen meist weder das Wissen noch die Auswahl haben, um Alternativen für Medikamente in Anspruch zu nehmen. Aber vielleicht kann – und muss – sich die Art und Weise der Herstellung in Zukunft ändern. Es gibt aber eben auch keine Patentlösung. Der Verzicht auf chemische Lösungsmittel ist ein Ansatz. Bewusstsein zu schaffen für den Impact der kleinen Pillen ist ein wichtiger Pfeiler, sowohl in der Gesellschaft als auch bei den herstellenden Unternehmen. Das Bild der geldgierigen Pharmaindustrie muss dann vielleicht neu gezeichnet werden. Merck ist sich seiner Verantwortung bewusst. “Der grundsätzliche Tenor, nachhaltig zu produzieren, führt dazu, dass wir eine Bandbreite an Technologie und auch die Awareness bekommen”, stellt Sebastian Härtner heraus. Er sieht positive Trends zum Beispiel auch in der Zusammenarbeit zwischen Forschungsgebieten. Jetzt sei der richtige Zeitpunkt, um neuartige Technologien zu etablieren. Methoden aus der Mechanochemie zu nutzen ist dabei eine von vielen Stellschrauben. Aber: “Nur Mechanochemie wird es nicht ermöglichen, nachhaltige Chemie zu machen.” Härtner beschreibt es als Lego-Baukasten: Viele einzelne Komponenten müssen zusammenpassen, um ein nachhaltigeres Endprodukt herzustellen. Einen wichtigen Faktor für die Zukunft einer umweltfreundlicheren Pharmaindustrie sieht er in eben dieser Modularität – dem Lego-Baukasten.